20. 01. 2016

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20. 01. 2016

Das grosse Rollen

Auf dem Weg ins Zeitalter der Permamobilität
Das World Economic Forum befasst sich in diesem Jahr mit den Auswirkungen der vierten industriellen Revolution. Nach Dampfmaschine, Elektrizität und Digitalisierung nimmt nun die intelligente Produktion an Fahrt auf. In der Mobilitätswelt führt dies zu einer immer komplexer werdenden Vernetzung innerhalb und zwischen den Teilsystemen. Dienstleistungen wie die „crowd-sourced“ Echtzeit-Navigationsapp waze oder das multimodale All-in-one-Angebot BeamBeta der Wiener Linien sind Beispiele für diesen Trend. Gleichzeitig ist die Robotisierung des Verkehrsbetriebs einer der bedeutendsten Entwicklungspfade in der Mobilitätsbranche. Welche Folgen hat dies für den öffentlichen Verkehr?

Selbstfahrendes Shuttle-Postauto in Sion
Video „Rush Hour“ by Fernando Livschitz: https://www.youtube.com/watch?v=MRPK1rBl_rI
Über den Zeitpunkt des ersten im Stadtverkehr regulär fahrerlos verkehrenden Automobils kann man lange streiten. Unbestritten ist, dass in absehbarer Zeit mit diesem revolutionären Gefährt zu rechnen ist. Es wird eine explosionsartige Robotisierung des Strassenverkehrs auslösen und die bisherige Organisation des Personen- und Güterverkehrs hinwegfegen. Ihre Dynamik bezieht diese Transformation aus dem enormen Effizienzschub, den der Übergang vom menschen- zum maschinengesteuerten Fahren bewirkt. Private Personenwagen werden heute nur rund eine Stunde pro Tag genutzt. Über 95 Prozent seiner Lebenszeit ist das Auto nicht Fahr- sondern Kapital vernichtendes Stehzeug. Das selbstfahrende Mobil bietet das Potenzial, dieses Verhältnis zu drehen.
Nach dem Motto „the car that never sleeps“ erweitert das robotisierte Privatfahrzeug sein Einsatzfeld, wird zum quasi nie parkenden Permamobil. Nachdem es morgens seinen Besitzer vor dem Eingang seines Büros abgesetzt hat, beginnt es den kombinierten Taxi- und Lieferbetrieb. Entscheidender Beschleuniger dieser Entwicklung ist der Plattform-Kapitalismus, wie ihn airbnb, Uber und andere schon mit Erfolg praktizieren. Dank der weiterhin exponentiell steigenden Rechenleistungen lassen sich die Kapazitäten der Permamobil-Flotte mit spontanen Beförderungs- und Lieferanfragen hochfrequent zum bestmöglichen Bedienkonzept reorganisieren. Tür-zu-Tür-Fahrten, individuell exklusiv oder kostengünstig mit dem Sammeltaxi, Expressroute oder mit Zeit und Platz zum Arbeiten – die taxiähnlichen Angebote werden sich schnell ausdifferenzieren, die Dienstleister mit verschiedenen Servicemodellen experimentieren.
Analog zu den Goldgräberepochen von Eisenbahn und Luftfahrt entfacht die Schwarmaktivität der Permamobile einen intensiven Preiswettbewerb – getrieben durch das massenhafte Peer-to-Peer-Angebot, die geringen Einnahmeerwartungen der privaten Fahrzeugbesitzer und das schlanke Geschäftsmodell der Plattformbetreiber, die ohne den Kauf eines einzigen Fahrzeugs in kürzester Zeit riesige Fahrzeugflotten aufbauen können. Der Anreiz, sich als Privatperson am fahrerlosen „Super-Uber“ zu beteiligen: Das Auto wandelt sich vom „cost center“ zum „profit center“. Das cash car als Umkehrung des Carsharing-Prinzips erlebt eine technologiegetriebene Renaissance. Schon kleine Margen bessern ohne Bequemlichkeitseinbussen die Haushaltskasse der Besitzer auf. Die regelmässigen Reinigungsstopps sorgen dafür, dass das Fahrzeug trotz Taxibetrieb sauberer ist als bei ausschliesslich privater Nutzung. Neben der Fahrzeugbetreuung werden sich weitere Dienstleistungen rund um die Robotaxis formieren, sich eigene, gegebenenfalls geschlossene Ökosysteme der Betreiberplattformen à la iTunes ausbilden: vom Leihvelo-bis-Telepräsenz-Mobilitätspaket aus einer Hand über exklusives In-Car-Entertainment bis zum inkludierten Latte Macchiato beim Drive-In-Kooperationspartner.
Elektroantrieb, Auslastungssteigerung und Wettbewerb führen zu rasant fallenden Mobilitätskosten. Der Mobilitätsmarkt nimmt Kurs auf Rifkins Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Dies heizt die Nachfrage weiter an, zusätzliche Verkehre werden induziert. Im Sog dieser Wachstumsspirale entstehen immer neue Geschäftsmodelle. Wie beim Google-Prinzip zahlt der Nutzer anteilig mit seinen Daten und seiner Aufmerksamkeit. Er ist während der Fahrt zugleich Kunde und Produkt. Warum sollte es nicht zukünftig AdCars geben? Sie übertragen Googles milliardenschwere AdWord-Werbestrategie auf die Strasse, so dass letztlich das angesteuerte Shopping-Center, Restaurant oder Event die Fahrt bezahlt. Die Zukunft der Automobilität wurde eingeläutet durch die Robotik-Fortschritte, doch öffnen diese insbesondere den cleveren Algorithmen der Softwarefirmen die Türen zu innovativen Optimierungs- und Umsatzkonzepten. Steht „googeln“ in 20 Jahren nicht mehr als Synonym für die Internetsuche sondern für die Fahrt von A nach B?
Selbst wenn zunächst nur ein Bruchteil der privaten Fahrzeuge zu selbstfahrenden Taxis mutiert, wird sich dieser Schatten-öV innerhalb kürzester Zeit zu einem relevanten Akteur mausern. In der Schweiz stehen heute rund 600‘000 Sitzen im öffentlichen Verkehr mindestens 16 Mio. Sitze in Personenwagen gegenüber. Wenn nur 1 Prozent der Personenwagen-Kapazität das skizzierte „Internet der rollenden Dinge“ mit komfortablem Tür-zu-Tür-Service begründet, wird die klassische Trennung zwischen privatem und öffentlichem Verkehr faktisch ausgelöscht. Die starre liniengebundene Verbundproduktion mit Grossgefässen wie Bus und Bahn wird nur noch auf extrem nachfragestarken Achsen wettbewerbsfähig sein. Wollen die klassischen öV-Betreiber auch morgen noch den Verkehr gestalten, werden sie rechtzeitig selbst zum verkehrsträgerübergreifenden Plattformanbieter aufsteigen müssen. Ansonsten bleibt ihnen allenfalls die Rolle als untergeordneter Zulieferer.
Dr. Thomas Sauter-Servaes ist Mobilitätsforscher. Er leitet den Studiengang Verkehrssysteme an der ZHAW School of Engineering und berät mit seinem Büro mobilecular Unternehmen bei der Entwicklung innovativer Mobilitätsangebote.