15. 11. 2023

Öffentlicher Verkehr und Velos sind wichtige Pfeiler einer umweltgerechten Mobilität, zumal in dicht besiedelten Gebieten. Der begrenzte Platz auf den Strassen birgt aber auch Konfliktpotenzial. Eine Bachelorarbeit der Hochschule für Wirtschaft und Ingenieurwissenschaften des Kantons Waadt hat untersucht, wie Busse und Velos im Bereich von Haltestellen sicher und zügig aneinander vorbeikommen. Die Arbeit wurde mit dem Prix LITRA 2023 ausgezeichnet.

Der Boom der E-Bikes lässt den Zweiradverkehr kräftig wachsen. Parallel dazu baut der öffentliche Verkehr (öV) sein Angebot weiter aus. Die Entwicklung zeigt sich exemplarisch in Lausanne: «In unserer Stadt hat sich der Veloverkehr zwischen 2014 und 2022 verdreifacht und das öV-Angebot um mehr als die Hälfte erhöht. Die wachsende Nutzung der Verkehrswege verstärkt den Druck auf das tägliche Zusammenleben», sagt Martial Messeiller, Mediensprecher der ‘Transports publics de la région lausannoise’. Der Strassenraum ist gerade in Städten ein kostbares Gut. Schnell geraten die unterschiedlichen Bedürfnisse der Verkehrsteilnehmenden miteinander in Konflikt: Werden Velowege gebaut, müssen mitunter Autoparkplätze weichen. Werden Busspuren für Velos geöffnet, sind Radfahrende sicherer unterwegs – behindern aber den öV.

Bushaltestellen im Fokus

Ein Ort mit speziellen Anforderungen an die Verkehrsführung sind Bushaltestellen. Sie müssen den Bedürfnissen von Bussen und Velos gleichermassen gerecht werden wie jenen von Autos und Personen, die zu Fuss unterwegs sind und den öV nutzen. Dazu sagt Christoph Merkli, Sekretär der Velo-Allianz Cycla: «Erfahrungsgemäss haben wir ein sehr professionelles Buspersonal; die Gefährdung des Veloverkehrs an Haltestellen ist aus unserer Sicht daher kein vorrangiges Problem. Heikel wird es dann, wenn Haltestellen in die Fahrbahn hineinragen und die Velospur unterbrechen.» Die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) beobachten mit Sorge eine wachsende Zahl von Konflikten zwischen Velofahrenden und wartenden bzw. ein-/aussteigenden Fahrgästen an Bushaltestellen. «Ein Faktor für diese Entwicklung ist, dass der Anteil des Veloverkehrs tendenziell zunimmt und sich im Strassenraum verschiedene Bedürfnisse überlagern», sagt VBZ-Sprecher Leo Herrmann.

Sichtweise aller Verkehrsteilnehmenden

Eine Bachelorarbeit der Hochschule für Wirtschaft und Ingenieurwissenschaften des Kantons Waadt (HEIG-VD) in Yverdon-les-Bains hat die Situation an Bushaltestellen genauer untersucht. Nyoman Selamet hat zum Abschluss seines Geomatik-Studiums untersucht, wie sich Haltestellen und Velorouten so gestalten und aufeinander abstimmen lassen, dass die Sicherheit, der Komfort und eine flüssige Fortbewegung für alle Verkehrsteilnehmenden gewährleistet ist. Der Autor kombiniert Literaturrecherchen mit Fallstudien aus Bern, Basel, Zürich, Pully und Ecublens. Die Arbeit wurde von Yves Delacrétaz, Professor für Mobilität und Transport an der HEIG-VD, betreut.

Fahrbahn-Halt versus Haltebucht

Zwei Verkehrsführungen an Bushaltestellen sind besonders verbreitet: Im ersten Fall stoppt der Bus in einer Haltebucht, um die Fahrgäste aus- und einsteigen zu lassen, während Velos, Motorräder und Autos links am Bus vorbeifahren können. Im zweiten Fall hält der Bus auf der Fahrbahn (teilweise mit vorgezogener Haltekante); die übrigen Verkehrsteilnehmenden müssen warten, bis der Bus die Fahrt fortsetzt. Diese beiden Grundformen kommen in einem Dutzend von Ausprägungen vor (siehe Slideshow). Diese unterscheiden sich unter anderem darin, ob die Velos auf der Fahrbahn, auf einer Velospur, auf der Busspur oder einem getrennten Veloweg unterwegs sind. All diese Verkehrsführungen an den Haltestellen haben ihre jeweiligen Vor- und Nachteile für die Beteiligten und können zwischen ihnen zu Konflikten führen, wie Nyoman Selamet in seiner Arbeit detailreich ausführt.

Die ‘ideale’ Lösung existiert nicht

Selamet formuliert in seiner Bachelorarbeit Kriterien für eine optimale Gestaltung von Bushaltestellen. Aus Sicht des Fahrpersonals von Bussen gilt es beispielsweise, eine Gefährdung von Velofahrenden aufgrund des toten Winkels zu vermeiden. Vorteilhaft sind aus dieser Perspektive in der Regel Haltestellen auf der Fahrbahn, denn damit entfallen konfliktträchtige trächtige Anlege- und Wiedereinfädlungsmanöver. Eine ‘ideale’ Lösung, welche die Bedürfnisse aller Verkehrsteilnehmenden optimal bedient, gebe es nicht, betont Nyoman Selamet: «Für jede Haltestelle muss jeweils nach der besten Verkehrsführung gesucht werden, abhängig von den jeweiligen Platz- und Verkehrsverhältnissen.» Planungsrechtliche Vorgaben müssen ebenso beachtet werden wie praktische Aspekte, darunter die Möglichkeit für die Schneeräumung im Winter.

Haltestelle in Bern. Fotoquelle: BSB+Partner, Ingenieure und Planer AG, Bern.

Gestaltungsvorschläge für Pully

Wie schwierig es in der Realität ist, allen Verkehrsteilnehmenden gerecht zu werden, zeigt sich da, wo Nyoman Selamet die Ergebnisse seiner Arbeit exemplarisch für die Neugestaltung von zwei Bushaltestellen in Pully (VD) verwendet. Die präsentierten Gestaltungsvorschläge machen deutlich, dass der begrenzte Raum zwischen Autos, Velos und Fussgängern aufgeteilt werden muss, und dass aus dem Vorteil des einen in der Regel ein Nachteil für einen anderen resultiert. Für beide untersuchten Haltestellen besteht gemäss Selamet eine mögliche Lösung darin, die Velos über einen Radweg hinter dem Wartehäuschen vorbeizuführen. Diese Verkehrsführung gewährleistet das schnelle Vorankommen der Velos, führt aber zu möglichen Konflikten mit den ein- und aussteigenden Buspassagieren.

Getrennte Verkehrsführung erwünscht

Der grosse Vorteil von Lösungen mit Radwegen: Sie gewährleisten eine getrennte Verkehrsführung für Busse und Velos, was auch im Sinn der Transportunternehmen ist, wie ein Blick auf die Stadt Genf deutlich macht. «Wenn sich Velos und Busse dieselbe Spur teilen müssen, ist das aus unserer Sicht nicht ideal, weil es Busse und Trams behindert», sagt François Mutter, Sprecher der ‘Transports publics genevois’. Solche Konflikte kommen im Genfer Alltag immer wieder vor, denn Velofahrende weichen gern auf die Bus- oder Tramspur aus, wenn sie sich auf stark befahrenen Strassen unsicher fühlen – oder wenn sie auf der Bus- oder Tramspur schneller zum Ziel kommen.

Wartezeiten sind zumutbar

Um den Bedürfnissen des wachsenden Veloverkehrs gerecht zu werden, suchen die städtischen Transportunternehmen nach innovativen Lösungen. Dazu gehören in der Stadt Basel mit seinem dichten Tramnetz Tests mit velofreundlichen Gleisen: Bei ihnen ist der Spalt neben der Schiene mit einem Gummi aufgefüllt, der hart genug ist, dass Velos ungehindert darüberfahren und nicht stürzen. Nach Auskunft von Adrienne Hungerbühler, Expertin öffentlicher Verkehr im Bau- und Verkehrsdepartement des Kantons Basel-Stadt, müssen aber letztlich auch Velofahrende mit Hindernissen leben: «In Basel haben wir oft nicht genug Platz, daher belassen wir bestehende Unterbrüche der Veloinfrastruktur bei Bushaltestellen. Wir sehen die Verlustzeit an den Haltestellen für wartende Velofahrende als vertretbar an.»

Haltestelle in Basel. Fotoquelle: Bau- und Verkehrsdepartement Basel-Stadt.

Gegenseitige Rücksicht

Die Arbeit von Nyoman Selamet gibt wichtige Anstösse für die künftige Ausgestaltung der urbanen Verkehrsinfrastruktur. Die täglichen Erfahrungen in den Schweizer Städten zeigen zugleich, dass neben durchdachten Verkehrsführungen auch Umsicht und gegenseitige Rücksicht der Verkehrsteilnehmenden von zentraler Bedeutung ist. Exemplarisch dafür steht der Kurs ‘David neben Goliath’, den Bernmobil seit einigen Jahren durchführt und bei dem das Fahrpersonal von Bussen und Trams temporär in die Rolle von Velofahrenden schlüpft. «Sicher gibt es infrastrukturseitig noch viel Potenzial, um Konflikte zwischen Velofahrenden und öV zu entschärfen», sagt Rolf Meyer, Leiter Kommunikation bei Bernmobil. «Das Wichtigste ist und bleibt aber aus unserer Sicht die gegenseitige Rücksichtnahme.

Autor: Benedikt Vogel

Die Arbeit von Nyoman Selamet unter dem Titel ‘Optimisation des pistes cyclables au droit des arrêts de bus’ finden Sie auf der vorliegenden Seite als PDF-Datei zum Herunterladen.


Nyoman Selamet

Nyoman Selamet ist als Sohn einer Kinderkrankenschwester und eines Magaziners in Lausanne aufgewachsen. Heute lebt der 25-jährige in Renens. Selamet begann ein Studium als Bauingenieur und begeisterte sich mehr und mehr für das Thema Mobilität. In seiner Bachelorarbeit hat er mit Bussen und Velos zwei umweltfreundliche Verkehrsmittel untersucht, die er selbst rege nutzt. Nach Abschluss seines Studiums will Selamet nun Berufserfahrungen im Transportsektor sammeln und später möglicherweise ein Masterstudium aufnehmen. «Der Prix LITRA ist für mich ein grosser Erfolg und eine wichtige Anerkennung einer Recherche, die mich acht Monate lang intensiv beschäftigt hat», sagt Nyoman Selamet.


Prix LITRA

Der Prix LITRA zeichnet pro Jahr in der Regel drei herausragende Bachelor- und Masterarbeiten aus, die von Studierenden von Schweizer Universitäten und Hochschulen verfasst wurden. Die renommierte Auszeichnung im Bereich des öffentlichen Verkehrs dient insbesondere auch der Nachwuchsförderung: Die Verfasserinnen und Verfasser der eingereichten Arbeiten sind später oft als Angebotsplanerinnen, Verkehrsingenieure, Projektleiterinnen und Mobilitätsexperten tätig. Der Prix LITRA wird seit 2012 durch eine interdisziplinär zusammengesetzte Jury vergeben.